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RÜCKSCHAU ZUM XI. KULTURPOLITISCHEN SALON

VERLUSTGESCHICHTEN? ERINNERUNGSKULTUREN IM ÖSTLICHEN EUROPA

von Grit Wolf, Arbeitsgruppe Leipzig der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V.

Der XI. Kulturpolitische Salon thematisierte Erinnerungskulturen im östlichen Europa.

Ein »bislang weitgehend vermintes Feld« nennt Stefan Troebst die konträren nationalen Erinnerungskulturen in seinem Einführungsstatement zum XI. Leipziger Kulturpolitischen Salon. Am Freitag den 15.09.06 waren Gäste aus dem Baltikum, vom Balkan und aus Armenien eingeladen, um über Erinnerungskulturen und Konstruktion nationaler Identitäten in ihren Ländern zu diskutieren. Der Kulturpolitische Salon widmete sich einer aktuellen Debatte, indem er die deutsche Perspektive bewusst ausblendete.

Stefan Troebst, Leiter des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Ostmitteleuropa in Leipzig und Moderator des Salons, schickte der Diskussion voran, dass im Zuge der EU-Osterweiterung vor allem nicht festgeschriebene Positionen neu verhandelt werden müssen. Dazu zähle auch die Erinnerungskultur, wie er am Beispiel des als Kalniete-Korn-Debatte bekannt gewordenen Streits um die die Bewertung und Vergleichbarkeit von Holocaust- und Gulag-Gedächtnis verdeutlichte.

Erinnerungskulturen sind immer Interaktion von individueller Erzählung und kollektiver Stilisierung. Daher wurden Gäste eingeladen, die als Schriftsteller und Publizisten die Erinnerungsdebatten in ihren Ländern mitschreiben und kritisch kommentieren. Es diskutierten: die litauische Journalistin Jolita Venckutė, der in Diaspora lebende Armenier Prof. Mihran Dabag, der Lyriker Stevan Tontić (Bosnien-Herzegowina) und der ungarische Schriftsteller László Végel (Serbien).

Zunächst wurden Innensichten der jeweiligen Erinnerungskulturen gegeben, anschließend transnationale Bezüge aufgezeigt. Dabei wurde deutlich, dass die Erinnerungskulturen in diesen Ländern noch immer sehr stark staatlich geprägt sind. Vereine und zivilgesellschaftliche Gruppen verfügen in Litauen, Serbien und Bosnien-Herzegowina bisher über wenig Einfluss. Die dominierenden Diskurse beziehen sich auf die jüngste Zeit. Die sowjetische Herrschaft wird in Litauen, die jugoslawischen Kriege in Serbien und Bosnien-Herzegowina vorrangig erinnert. Jedoch greifen die neuen Nationalstaaten für ihre Selbstdefinition auch weiter zurück: das polnisch-litauischen Großreich, das serbische Großreich sowie die Habsburger Monarchie und das Osmanische Reich werden als positive transnationale Erinnerungsorte genannt.

Armenien nahm sich als Sonderfall aus. Denn hier gibt es sowohl einen Staat als auch eine, auf differenten Erfahrungshorizont zurückgreifende, Diaspora. Mihran Dabag unterschied deshalb zwischen Erinnerung und Erinnerungskultur. Erinnerung erfolge in der Diaspora von Gemeinschaften. Erinnerungskultur hingegen versteht er als bewusste staatliche Setzung einer Gedenkkultur zur Legitimation von Herrschaft. Ihr kommt daher ein großer Stellenwert im Zusammenagieren von Staaten zu. Sie verortet sich im Spannungsfeld von Kultur und Politik. Wobei zu vermuten steht, dass Erinnerungskultur in Westeuropa eher kulturpolitisch, in Ostmitteleuropa eher staatspolitisch verankert ist. Doch dieser Aspekt konnte auf Grund der fortgeschrittenen Zeit nicht mehr diskutiert werden.

Es diskutierten:

  • Jolita Venckute, Deutschland-Korrespondentin der größten litauischen Tageszeitung »Lietuvos rytas«
  • László Végel, ungarischer Schriftsteller, Dramaturg und Journalist aus dem nordserbischen Novi Sad
  • Mihran Dabag, Direktor des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum
  • Stevan Tontic, Schriftsteller, Philosoph und Verlagslektor aus Sarajevo
  • Moderation:
    Stefan Troebst, Professor für Kulturstudien Ostmitteleuropas an der Universität Leipzig

Der XI. Kulturpolitische Salon zum Thema »Verlustgeschichten? Erinnerungskulturen im östlichen Europa« fand am 15. September 2006 um 20 Uhr in der  Oper Leipzig statt.

 

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